Chris: Die Suche nach dem wahren Ich (1/2)

Im Grunde war mein Leben immer gut - beschweren konnte ich mich eigentlich nicht. Aber besonders toll war es auch nicht. Hinnehmbar eben. Ganz okay. In Ordnung. Aber geht da nicht mehr? Wir leben doch nur einmal, soweit wir es wissen - zumindest gehe ich mal davon aus. Dieses Leben ist jedenfalls endlich. Mit Ende dreißig erst machte es Klick und ich merkte, in welchem Hamsterrad ich eigentlich gefangen war.

Jahre lang habe ich im Autopiloten vor mich her gelebt und mich so von Tag zu Tag gehangelt. Ohne richtiges Bewusstsein irgendwie.  Ich habe alle erlernten Muster ohne groß drüber nachzudenken abgerufen und muss zugeben, erst als ich Rina kennengelernt habe, habe ich verstanden, dass das Leben mehr ist. Dass wir uns im Grunde sehr viel von der Gesellschaft und Politik manipulieren lassen, klein gehalten werden und nur ackern, um dann abends erschöpft nach Hause zu kommen. Ein Mal im Jahr in den Urlaub fahren, um uns nach unserer Rückkehr wieder vom System ausbeuten zu lassen. Dass wir von den Medien beeinflusst und in Richtungen gedrängt werden bis wir gar nicht mehr wissen wer wir sind. Aber… Wer bin ich eigentlich?

Diese Frage hatte ich mir vorher nie ernsthaft gestellt. Klar, ich wusste, wie ich hieß, was mein Job war, wo ich wohnte. Ich kannte meine Vorlieben, meine Abneigungen, meine Routinen. Aber wer ich wirklich war – was mich im Kern ausmachte, abseits all dieser erlernten Rollen und gesellschaftlichen Erwartungen – darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht.

Rina dagegen war anders. Sie war wie ein Sturm, der alles durcheinanderwirbelte, was ich für selbstverständlich gehalten hatte. Sie stellte Fragen, die mir unangenehm waren, weil sie mich zwangen, über Dinge nachzudenken, die ich lieber ignoriert hätte. Warum machst du das überhaupt? Macht es dich glücklich? Ist das wirklich dein Traum oder nur der, den man dir verkauft hat?

Anfangs hat mich das genervt. Ich wollte doch einfach nur meine Ruhe. Aber je mehr Zeit ich mit ihr verbrachte, desto mehr begann ich zu begreifen: Mein ganzes Leben war eine Aneinanderreihung von Kompromissen gewesen. Ich hatte funktioniert, nicht gelebt. Ich hatte konsumiert, aber nichts erschaffen. Ich hatte mich gefügt, anstatt meine eigenen Regeln zu schreiben.

Und jetzt? Jetzt war da dieser Gedanke, der nicht mehr verschwinden wollte. Was, wenn ich ausbreche? Was, wenn ich alles hinter mir lasse und wirklich herausfinde, wer ich bin?

Aber konnte ich das überhaupt? Und wenn ja – hatte ich den Mut dazu?

Seit über zwei Jahrzehnten war ich Physiotherapeut. Ich hatte in verschiedenen Praxen gearbeitet, immer nach demselben Schema: Patient rein, Standardbehandlung, Patient raus. Taktung im 20-Minuten-Rhythmus, keine Zeit für echte Heilung, keine Zeit für echte Gespräche. Es ging längst nicht mehr darum, Menschen wirklich zu helfen – es ging um Zahlen. Umsatz. Profit. Und ich war ein kleines Rädchen in diesem System, das mich mit jedem Jahr mehr zermürbte.

Ich sah Menschen kommen und gehen, manche Woche für Woche, ohne dass sich an ihrer Situation etwas änderte. Weil das System nicht auf Heilung ausgerichtet war. Sondern auf Abhängigkeit. Ein Körper, der gesund wird, bringt kein Geld. Aber ein Patient, der immer wiederkommt, ist eine konstante Einnahmequelle.

Dieser Gedanke war unerträglich. Ich wollte nicht länger Teil dieses Spiels sein.

Rina half, mir die Augen zu öffnen (hier geht’s zu ihrer Story). Nicht nur für das Gesundheitssystem, sondern für das Leben an sich. Ich begann, alles zu hinterfragen. Warum arbeite ich 40 Stunden die Woche für einen Job, der mich auslaugt? Warum verbringe ich meine besten Jahre damit, andere reich zu machen, während ich selbst kaum Luft zum Atmen habe? Warum akzeptiere ich all das, anstatt endlich etwas zu ändern?

Ich wusste: Wenn ich so weitermachte, würde ich in zwanzig Jahren verbittert in einer Praxis stehen, mit kaputten Händen und einem müden Herzen. Und dann? Dann wäre es zu spät.

Ich musste raus.

Ich wollte meine eigene Praxis eröffnen – eine, in der der Mensch im Mittelpunkt stand, nicht der Profit. Eine, in der ich mir Zeit für meine Patientinnen und Patienten nehmen konnte, anstatt sie durchzuschleusen wie eine Nummer. Vielleicht mit alternativen Heilmethoden, mit mehr Bewusstsein für Körper und Geist. Vielleicht sogar irgendwo anders, außerhalb dieses hektischen Alltags, in dem die Menschen kaum mehr fühlen, wer sie wirklich sind.

Und ich wollte noch mehr. Ich wollte leben. Wirklich leben.

Ich wollte reisen, die Welt sehen, Kulturen erleben, den Horizont erweitern. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, in einem Iglu in den Alpen zu übernachten, auf den Wellen in Portugal zu surfen oder in den heißen Quellen von Island zu baden. Ich wollte Geschichten hören, Sprachen lernen, mich verlieren und wiederfinden.

Vor allem aber wollte ich mich selbst entdecken. Ohne das System. Ohne die vorgefertigten Wege, die man mir vorgegeben hatte.

Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich: Da geht noch mehr. Und ich war bereit, es mir zu holen.

Doch so einfach, wie ich es mir ausgemalt hatte, war es nicht.

Die Idee war da. Die Vision stand. Aber dann kam der Teil, über den niemand spricht – der Moment, in dem du wirklich springst.

Ich saß nach Feierabend zu Hause auf der Couch, starrte auf den Bildschirm meines Smartphones und googelte: "Wie macht man sich als Physiotherapeut selbstständig?"
Seitenweise Bürokratie. Anträge. Versicherungen. Kosten, die mir den Atem raubten.

Mein Herz raste. War das wirklich eine gute Idee? Ich hatte ein festes Gehalt, eine gewisse Sicherheit. Klar, ich hasste das System, aber ich wusste, woran ich war. Was, wenn ich scheiterte? Was, wenn niemand in meine Praxis kam? Was, wenn ich am Ende mit Schulden und gescheiterten Träumen dastand?

Zum ersten Mal spürte ich die Angst so richtig. Sie kroch in meinen Nacken, flüsterte mir all die Zweifel ein, die mich mein ganzes Leben lang klein gehalten hatten.

Doch dann dachte ich an Rina. An unsere Gespräche bis tief in die Nacht. An ihre leuchtenden Augen, wenn sie von Freiheit sprach. „Weißt du“, hatte sie einmal gesagt, „die meisten Menschen bereuen am Ende nicht das, was sie getan haben – sondern das, was sie nie gewagt haben.“

Und das war es. Mein ganzes Leben war ein einziges Abwarten gewesen. Ich hatte mich treiben lassen, hatte mich gefügt. Aber wenn ich jetzt nicht sprang – würde ich es jemals tun?

Ich legte das Handy beiseite, mein Blick verließ den kleinen Bildschirm und ich starrte auf den großen – das perfekte Dinner lief im Fernsehen. Wie jeden Abend um die Zeit. Ich glaube es war sogar eine Wiederholung. Dann traf mich die Erkenntnis mit voller Wucht:

Ich war noch hier. Noch gefangen in diesem alten Leben. Aber ich hatte die Tür bereits einen Spalt weit geöffnet. Und jetzt lag es an mir, sie ganz aufzustoßen.

Ich atmete tief durch. Dann nahm ich mein Handy wieder zur Hand, öffnete meine Notizen und tippte die Worte, die alles verändern würden:

Job kündigen. Businessplan schreiben. Leben starten.

Ich starrte auf den Bildschirm. Da stand es. Schwarz auf Weiß. Kein Zurück mehr.

Ich hatte es wirklich getan. Nach all den Jahren im Hamsterrad, nach all den Zweifeln und Ängsten hatte ich die Reißleine gezogen. Nicht irgendwann. Nicht „wenn es besser passt“. Sondern jetzt.

Natürlich war es leichter gewesen, weil Rina diesen Job in den USA bekommen hatte. Es war der perfekte Vorwand, um auszubrechen. „Ich gehe mit meiner Frau für ein Jahr ins Ausland“, klang nach einer durchdachten Entscheidung, nicht nach einer Kurzschlussreaktion. Aber tief in mir wusste ich, dass es nicht nur darum ging, mit ihr zu gehen. Es ging um mich. Um das Leben, das ich endlich in die Hand nehmen wollte.

Die ersten Wochen in den USA fühlten sich seltsam an. Rina arbeitete viel, lernte neue Leute kennen, wuchs in ihre Rolle hinein. Und ich? Ich saß in unserer Wohnung, trank Kaffee und fragte mich, was ich hier eigentlich machte.

Anfangs genoss ich es – das Nichtstun, die Freiheit, morgens einfach in den Tag reinzuleben, ohne Termine, ohne Zeitdruck. Doch irgendwann wurde die Ruhe zu laut. Ich fühlte mich nutzlos. Ich hatte mich von einem System befreit, das mich gefangen gehalten hatte – nur um jetzt in einer anderen Art von Stillstand festzustecken.

Aber dann kam dieser eine Abend.

Ich scrollte durch mein Handy, las Artikel über alternative Heilmethoden, über holistische Gesundheit, über Menschen, die sich von innen heraus heilten. Ich erinnerte mich an meine Patienten, an all die Momente, in denen ich gespürt hatte, dass reine Physiotherapie nicht ausreichte. Dass Heilung mehr war als Massagen und Übungen. Dass es um den ganzen Menschen ging – Körper, Geist und Seele.

Und plötzlich wusste ich, was ich tun musste.

Noch in derselben Nacht meldete ich mich für eine Online-Ausbildung zum ganzheitlichen Gesundheitscoach an. Ich hatte keine Ahnung, wohin mich das führen würde. Aber ich wusste eines: Ich würde nicht länger warten, bis das Leben mit mir passierte. Ich würde es selbst in die Hand nehmen.

Das war der Anfang. Nicht nur von einem neuen Beruf. Sondern von mir selbst.

Die ersten Wochen der Ausbildung fühlten sich an wie das Aufwachen aus einem langen Schlaf. Ich hatte geglaubt, als Physiotherapeut schon viel über den menschlichen Körper zu wissen – doch plötzlich erkannte ich, wie oberflächlich mein Wissen eigentlich war.

Es ging nicht nur um Muskeln und Gelenke. Nicht nur um Bewegung. Sondern um das ganze System: Körper, Geist, Seele. Ich lernte, dass Schmerzen oft nicht nur physische Ursachen haben. Dass Stress, unterdrückte Emotionen und unbewältigte Traumata sich im Körper festsetzen können. Dass viele Krankheiten nicht einfach „passieren“, sondern Ausdruck einer tieferen Disharmonie sind.

Und dann war da dieses Konzept, das mich besonders packte: die verschiedenen Bühnen des Lebens.

Ich lernte, dass unser Leben in Phasen verläuft – so wie Jahreszeiten. Es gibt Zeiten des Wachstums und des Aufbruchs, Zeiten der Reife, aber auch Zeiten der Krise und des Rückzugs. Und oft kämpfen wir gegen diese natürlichen Zyklen an, weil wir in unserer Gesellschaft nur Leistung und Produktivität anerkennen. Doch wahre Entwicklung braucht auch Stillstand. Rückzug. Innenschau.

Zum ersten Mal verstand ich, dass mein bisheriges Leben genau diesem Muster gefolgt war. Ich war jahrelang in einer Art Winter festgesteckt – starr, kalt, fremdgesteuert. Doch jetzt war Frühling. Ich erwachte. Ich ließ Altes los und machte Platz für Neues.

Einen großen Teil dieser Transformation erlebte ich durch das Fasten. Ich hätte nie gedacht, dass ich freiwillig auf Essen verzichten könnte. Doch je mehr ich darüber lernte, desto faszinierter war ich. Es ging nicht nur um den Körper, sondern um den Geist. Darum, sich von alten Gewohnheiten zu lösen, seinen Willen zu stärken, Klarheit zu finden. Ich begann mit Intervallfasten, dann wagte ich mich an längere Fastenzeiten. Und es war, als würde ich Schicht für Schicht von mir selbst abtragen, bis ich endlich meinen wahren Kern sehen konnte.

Gleichzeitig entdeckte ich Meditation. Anfangs fühlte es sich seltsam an, einfach nur zu sitzen und nichts zu tun. Aber irgendwann wurde es zu einem täglichen Ritual – ein Moment der Stille in dieser lauten Welt. Ein Moment, in dem ich mich wirklich spüren konnte.

Und während ich all das lernte und mich selbst neu entdeckte, zeigte mir das Leben eine weitere Lektion: die Schönheit der Welt.

Rina und ich nutzten jedes freie Wochenende, um zu reisen. Wir fuhren mit dem Auto durch endlose Landschaften, schliefen in kleinen Motels oder direkt unter freiem Himmel. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich zum ersten Mal vor einem der riesigen Mammutbäume im Sequoia National Park stand und wie unglaublich klein ich mich plötzlich fühlte.

Ich legte die Hand auf die raue Rinde – dieser Baum stand hier schon seit Tausenden von Jahren. Als ich den Kopf hob, verlor sich seine Krone irgendwo im Himmel. Vor “General Sherman”, dem größten Baum der Welt, wurde mir klar, wie relativ Zeit ist. Ich befand mich an einem Ort, der mich daran erinnerte, wie groß die Natur ist – und wie kurz unser eigener Moment darin.

Ich merkte, wie sich meine Wahrnehmung veränderte. Früher war ich einfach durch mein Leben gerannt, ohne wirklich hinzusehen. Jetzt nahm ich alles bewusst wahr. Den Duft der Wälder. Die Wärme der Morgensonne auf meiner Haut. Das Gefühl von Freiheit, wenn der Wind durch das offene Autofenster strich. Das klingt vielleicht kitschig, aber so ist es, wenn man aus dem Autopiloten aussteigt und anfängt, das Drumherum mal richtig und bewusst wahrzunehmen.

Ich lebte. Wirklich. Zum ersten Mal.

Und während ich durch die Weiten Amerikas reiste, wusste ich: Egal, wohin es uns als Nächstes verschlagen würde – ich würde nie wieder in mein altes Leben zurückkehren.

Mit jeder Woche, die verging, fühlte ich mich leichter, freier, bewusster. Ich lernte so viel über mich selbst, über das Leben, über das, was wirklich zählt.

Doch während ich mich veränderte, veränderte sich auch die Welt – und nicht unbedingt zum Besseren.

(Fortsetzung in Teil 2)

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Rina: Der Tiefpunkt meines Lebens