Chris: Die Suche nach dem wahren Ich (2/2)
Überall Krisen. Konflikte. Kriege, die näher rückten. In Amerika spürte man die Unruhe auf den Straßen. Menschen, die sich gegenseitig anschrieen – politisch, ideologisch, fast schon wie zwei verfeindete Lager. Und auch zu Hause, in Europa, in Deutschland, veränderte sich etwas. Eine neue Regierung, gemischte Reaktionen, Proteste. Ich scrollte durch die Nachrichten und spürte diese Schwere, diese Angst, die sich in die Gesellschaft fraß.
Aber dann kam mir ein Gedanke: Was, wenn ich mich nicht von dieser Angst mitreißen lasse? Was, wenn ich stattdessen etwas schaffe, das Hoffnung gibt?
Denn genau in solchen Zeiten brauchten Menschen Orte der Heilung. Orte, an denen sie durchatmen konnten. Orte, an denen sie sich erinnern konnten, wer sie wirklich waren, abseits von Propaganda, Medienrummel und gesellschaftlichem Druck.
Ich wusste, dass ich nicht zurück in meine alte Rolle als Physiotherapeut konnte. Aber ich wusste auch, dass es einen Weg gab, all das Neue, das ich gelernt hatte, mit meinem alten Wissen zu verbinden.
Und dann fiel mein Blick auf mein Notizbuch. Ganz unten auf einer Seite, die ich Monate zuvor beschrieben hatte, stand ein Satz, den ich fast vergessen hatte:
„Unsere Praxis.“
Rina und ich hatten es schon vor unserer Abreise nach Amerika beschlossen. Wir hatten eine alte, charmante Immobilie gekauft – nicht in der hektischen Stadt, sondern in einer ruhigen Gegend, mit viel Grün drumherum. Ein ehemaliges Pfarrhaus mit Charakter, das darauf wartete, wieder zum Leben erweckt zu werden.
Damals war es nur eine Idee gewesen. Jetzt war es eine Mission.
Ich stellte mir vor, wie der alte Holzboden abgeschliffen wurde, wie wir die Wände in freundlichen Farben strichen. Ich sah die Räume vor mir – keine sterile Praxis, sondern ein Ort, an dem sich Menschen sofort wohlfühlten. Ich wollte hier nicht nur Massagen und Behandlungen anbieten. Ich wollte Retreats veranstalten, Workshops über bewusste Ernährung, Meditation, Heilung. Einen Raum schaffen, in dem Menschen auf allen Ebenen gesunden konnten.
Als Rina abends nach Hause kam, erzählte ich ihr von meinem Gedankenkarussell. Sie lächelte.
„Ich wusste, dass du es irgendwann fühlen würdest“, sagte sie leise.
Ich sah sie an. „Fühlen?“
Sie nickte. „Dass die Welt gerade durch eine dunkle Phase geht, ja. Aber dass du dich davon nicht runterziehen lässt, sondern stattdessen etwas erschaffst. Genau das macht den Unterschied.“
Ich atmete tief durch. Ja. Genau das war es.
Die Welt würde sich weiter verändern – manchmal ins Gute, manchmal ins Schlechte. Aber ich hatte meine Aufgabe gefunden. Und zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich vollkommen bereit, sie anzunehmen.
Die Rückkehr war surreal.
Nach einem Jahr in den endlosen Weiten Amerikas fühlte sich Deutschland enger an, lauter, geordneter. Aber es war auch vertraut. Die Straßen, die Sprache, der Rhythmus des Lebens hier. Und doch war nichts mehr, wie es vorher war – zumindest für mich.
Rina und ich fuhren ein paar Tage nach unserer Rückkehr zur Immobilie. Wir waren ein ganzes Jahr nicht dort gewesen. Jetzt stand ich davor. Und mein erster Gedanke war: Heilige Scheiße, was haben wir uns da angetan?
Das Haus war wunderschön, keine Frage. Aber es war alt. Staubig. Mit knarrenden Dielen und Wänden, die nach frischer Farbe schrien. Der Garten war während unserer Abwesenheit verwildert. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie frühere Generationen hier gelebt hatten – und jetzt waren wir dran, diesem Ort eine neue Seele zu geben.
Rina sah mich an und grinste. „Na? Immer noch sicher?“
Ich lachte. „Mehr denn je.“
Wir gingen durch die Räume, unsere Stimmen hallten durch die Leere. Ich stellte mir vor, wo die Behandlungsräume sein würden, wo der Empfang, wo vielleicht eine kleine Teeküche für die Patienten. Ich sah die Meditations-Ecke, den Raum für Workshops, die Liegen für Massagen und Körpertherapie.
Und dann, auf einmal, wurde mir bewusst, was für ein gewaltiges Projekt vor uns lag.
Renovierung. Finanzierung. Genehmigungen. Marketing. Der ganze bürokratische Wahnsinn.
Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. Ein Teil von mir wollte sofort loslegen. Der andere Teil fragte sich, ob ich nicht gerade die größte Dummheit meines Lebens begangen hatte.
Doch dann erinnerte ich mich an all die Lektionen des letzten Jahres. Atmen. Loslassen. Schritt für Schritt.
Und genau das tat ich.
Die nächsten Wochen waren ein wilder Mix aus Chaos und Glück.
Wir holten uns Unterstützung – Architekten, Handwerker, Freunde, die bereit waren, mit anzupacken. Ich lernte Dinge über Renovierung, die ich mir nie hätte vorstellen können: wie man alte Balken abschleift, welche Farben eine beruhigende Atmosphäre schaffen, wie man einen Raum so gestaltet, dass er Energie statt Stress ausstrahlt.
Und während der Staub durch die Luft wirbelte, während ich mit Farbe im Gesicht und Holzspänen in den Haaren auf dem Boden saß, wurde mir klar: Das hier ist genau das, wofür ich gemacht bin.
Jeden Abend war ich erschöpft, aber glücklich. Und in den ruhigen Momenten, wenn ich allein in einem der noch unfertigen Räume stand, spürte ich es immer wieder: Dieser Ort wird nicht nur andere Menschen heilen. Er heilt auch mich.
Und dann kam der Moment, auf den ich gewartet hatte.
Ich dachte an die Praxis, die hier bald entstehen würde. Daran, wie ich Menschen helfen würde, nicht nur ihre körperlichen Beschwerden loszuwerden, sondern wirklich zu gesunden – ganzheitlich, nachhaltig.
Und ich wusste: Ich bin endlich angekommen.
Es war, als hätte das Universum einen perfekten Plan gehabt.
Dazu muss man wissen, dass Rina und ich in derselben Gemeinde aufgewachsen sind. Wahrscheinlich hatten wir als Kinder auf dem gleichen Spielplatz gespielt, waren durch dieselben Straßen geradelt, hatten an denselben Orten Schnitzeljagd gespielt. Und doch hatten sich unsere Wege nie gekreuzt – bis vor ein paar Jahren.
Als wäre die Zeit davor noch nicht reif gewesen.
Jetzt standen wir hier, Seite an Seite, mitten in diesem alten Haus, das bald unser gemeinsames Lebenswerk sein würde. Und es war verrückt, wenn ich darüber nachdachte: Hätten wir uns früher getroffen, wären wir dann bereit füreinander gewesen? Hätte ich sie überhaupt erkannt – diese Frau, die jetzt mein größter Antrieb war?
Rina war das Herz unseres Projekts.
Während ich die handwerklichen Dinge übernahm, sägte und schraubte, war sie diejenige, die die Seele des Ortes fühlte. Sie konnte einen kahlen Raum betreten und sofort wissen, welche Farben, welche Stoffe, welche Düfte ihn in einen Ort der Ruhe verwandeln würden. Sie sprach mit den Menschen, die hier später heilen würden, als wären sie längst da. Sie malte Visionen in die Luft, während wir mit Farbrollen in der Hand auf Leitern standen.
„Stell dir vor“, sagte sie eines Abends, als wir inmitten von Farbeimern und halb aufgebauten Möbeln saßen, „ein Ort, an dem die Menschen nicht nur behandelt, sondern wirklich gesehen werden. Wo sie nicht einfach Termine abarbeiten, sondern Zeit haben, sich selbst zu spüren. Wo Körper, Geist und Seele als Einheit betrachtet werden.“
Ich nickte. „Das ist genau das, was fehlt.“
Sie lächelte. „Und genau das erschaffen wir.“
Die Wochen vergingen. Der Ort nahm Form an. Aber es war mehr als das.
Es war, als würden nicht nur die Wände gestrichen, sondern als würde auch etwas in uns selbst immer klarer.
Ich sah Rina morgens im Garten Yoga machen, während die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume fielen. Ich spürte, wie wir uns ergänzten, wie wir beide etwas in diesem Projekt fanden, das weit über uns selbst hinausging.
Es war nicht nur eine Praxis. Es war unser Zuhause. Unser Weg. Unser Geschenk an die Welt.
Manchmal, wenn wir spät abends auf der Baustelle saßen, erschöpft und voller Farbe, blickte ich sie an und wusste: Hätte ich mein Leben vorher nicht umgekrempelt, wäre ich nie hier gelandet. Wären wir uns früher begegnet, hätten wir nie diesen Ort geschaffen.
Alles war genau so passiert, wie es passieren sollte.
Und das fühlte sich an wie Freiheit. Aber eine nachts…
… kam der Regen.
Er prasselte gegen die Fensterscheiben, zog in Böen ums Haus, füllte die Luft mit einem dumpfen Rauschen. Ich lag im Bett, lauschte dem Sturm draußen und spürte dieses seltsame Ziehen in der Brust – eine Vorahnung, ein unruhiger Gedanke, der sich nicht abschütteln ließ.
Am nächsten Morgen fuhren wir direkt zum Haus. Dort zeigte sich das ganze Ausmaß.
Es tropfte von der Decke, ein dunkler Fleck breitete sich auf dem Holz aus, Tropfen platschten auf den Boden. Ich wusste sofort: Das Dach hat nachgegeben.
Der alte Schiefer hatte dem Wind und dem Regen nicht mehr standgehalten. Mehrere Platten waren zerbrochen, andere hatten sich gelöst, eine ganze Ecke des Daches war undicht. Das Wasser hatte sich seinen Weg gesucht, war durch das Gebälk gesickert, hatte Decken und Balken durchfeuchtet.
Es war schlimmer, als ich befürchtet hatte.
Der Dachdecker, der sich am nächsten Tag alles ansah, zog nur die Stirn kraus und seufzte schwer. „Da hilft nix. Das muss neu gemacht werden. Komplett.“
Ich schluckte. Wir hatten unser Budget bereits bis zum Anschlag ausgereizt. Ein neues Dach? Das würde uns finanziell völlig ausbremsen.
Und dann der nächste Schlag: Denkmalschutz.
Wir konnten nicht einfach irgendein Dach decken lassen. Es musste mit historischen Schieferplatten gemacht werden, handgefertigt, passend zur ursprünglichen Bauweise. Es musste genehmigt , geprüft, mit der Behörde abgestimmt werden. Ein Prozess, der Monate dauern konnte – und Unsummen verschlingen würde.
Ich stand draußen, sah zum Dach hoch, das jetzt notdürftig mit Planen abgedeckt war. Ich hätte fluchen können, schreien, irgendwen oder irgendwas für diese Situation verantwortlich machen. Aber dann fiel mir eine Erkenntnis auf, die mich durch das letzte Jahr begleitet hatte:
Vielleicht musste das so passieren. Vielleicht war das Dach schon lange am Ende. Vielleicht hat es jetzt nachgegeben, weil es an der Zeit war, Platz für etwas Neues zu machen.
Also hieß es: Lösungen finden.
Wir sprachen mit der Denkmalbehörde, suchten nach Fördermöglichkeiten, rechneten jedes Detail durch. Und irgendwann wurde aus der Katastrophe ein Plan.
Das neue Dach würde ein Vermögen kosten. Aber es würde das Haus für Jahrzehnte schützen.
Es würde das letzte große Hindernis vor der Eröffnung sein. Die letzte Prüfung.
Ich atmete tief durch, ließ den Blick über das alte Gemäuer schweifen.
Ja, es war verdammt teuer.
Ja, es war nervenaufreibend.
Aber am Ende?
Es war es wert.
Eigentlich hatten wir uns vorgenommen, den Dachstuhl erst in ein paar Jahren zu renovieren, dann wenn die Praxis schon läuft und wir uns eingelebt hatten. Aber nun standen wir hier: Die Eröffnung mussten wir nach hinten verschieben und unser Fokus galt dem Dachausbau. Es war immens viel Arbeit, das Projekt hat uns viele Nerven gekostet, aber jetzt stand ich hier in der Mitte des großen Raumes, den Pinsel noch in der Hand, und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Fenster und warfen warme Lichtflecken auf den Holzboden. Die Wände, die einst spröde und alt gewirkt hatten, strahlten nun in einem ruhigen Sandton. Die Luft roch nach Holz, nach frischer Farbe, nach einem neuen Anfang.
Es war fertig. Unser Ort der Heilung.
Der Weg hierher war alles andere als leicht gewesen.
Das Dach hatte uns fast in den Ruin getrieben, die Bürokratie uns den letzten Nerv geraubt, die Bauarbeiten uns Wochen gekostet. Aber jetzt, wo ich hier stand, wusste ich: Jede Sekunde, jede Herausforderung, jedes Hindernis hatte sich gelohnt.
Rina saß auf einer Yogamatte im Meditationsraum, die Augen geschlossen, der Atem ruhig. Die Kerzen flackerten sanft, in der Ecke lag ein Bündel frisch gepflückter Lavendelzweige.
Ich lehnte mich an den Türrahmen und beobachtete sie.
Wir hatten dieses Projekt gemeinsam erschaffen, Stein für Stein, Tag für Tag. Sie war der Wirbelwind, der alles mit Leben füllte, der aus einem kahlen Raum eine Oase der Ruhe machte. Ich war der Boden unter unseren Füßen, der alles zusammenhielt.
Und morgen würden die ersten Menschen durch unsere Tür treten.
Der Tag begann früh. Wir hatten keinen roten Teppich ausgerollt, keine pompöse Feier geplant. Es sollte sich nicht wie eine Geschäftseröffnung anfühlen, sondern wie das, was es wirklich war: Ein Zuhause für Heilung, Wachstum und Bewusstsein.
Die ersten Gäste kamen zögernd, neugierig. Freunde, Bekannte, Fremde. Menschen, die einfach nur sehen wollten, was hier entstanden war. Menschen, die hofften, hier etwas zu finden, das sie suchten – vielleicht ohne genau zu wissen, was es war.
Ich führte sie herum, zeigte die Räume, erklärte unser Konzept. Keine sterile Praxis, keine Hektik. Hier sollte Zeit keine Rolle spielen. Hier sollte sich jeder gesehen, gehört, verstanden fühlen.
Rina hielt eine kleine Willkommensmeditation ab, während ich mit den ersten Klienten sprach. Manche wollten Physiotherapie, andere waren neugierig auf ihre Achtsamkeitskurse. Und dann waren da diejenigen, die einfach nur kamen, weil sie spürten, dass dieser Ort etwas Besonderes war.
Als die Sonne langsam unterging, saß ich auf den Treppenstufen des alten Pfarrhauses. Rina setzte sich neben mich, reichte mir eine Tasse Tee.
„Wie fühlt es sich an?“, fragte sie.
Ich nahm einen Schluck, ließ den Tag noch einmal an mir vorbeiziehen.
Dann lächelte ich.
„Genau richtig.“
Denn genau das war es. Alles war genau richtig.